von Dr. Johannes Thürauf (Gewinner YRA 2023)

Infolge der seit den 1990er Jahren voranschreitenden europäischen Gasmarktliberalisierung wurde das sogenannte Entry-Exit-System als Gasmarktsystem in Europa eingeführt. Eines der Hauptziele dieses Marktsystems ist die Entkopplung von Gashandel und dem zugehörigen Gastransport. Für die Analyse des europäischen Entry-Exit-Systems wird in der mathematischen Literatur häufig ein vierstufiges Optimierungsmodell, siehe [1], verwendet, welches eine idealisierte Form des Entry-Exit-Modells beschreibt. In diesem Modell interagieren ein Netzbetreiber und Gashändler auf verschiedenen Stufen miteinander, wobei der Netzbetreiber verantwortlich für den Gastransport ist. Sogenannte Buchungen spielen eine wichtige Rolle im Entry-Exit-System, um den Gashandel und -transport zu entkoppeln. Buchungen sind im Allgemeinen mittel- bis langfristige Verträge bezüglich Kapazitätsrechte an Ein- und Ausspeisepunkten des Netzes. Die vorab gebuchten Kapazitäten erlauben es den Händlern, im täglichen Gashandel beliebige bilanzierte Ein- und Ausspeisemengen innerhalb der gebuchten Kapazitäten zu nominieren. Für einen detaillierten Einblick in die mathematische Modellierung des Entry-Exit-Systems und in die Gasmarktliberalisierung in Europa verweisen wir auf [1, 4].

„Eine mathematische Herausforderung“

In der betrachteten idealisierten Form des Entry-Exit-Systems muss der Netzbetreiber bei Abschluss der Buchungsverträge garantieren, dass alle bilanzierten Ein- und Ausspeisungen innerhalb der Buchung durch das Netz transportiert werden können. Folglich ist der Gashandel innerhalb der gebuchten Kapazitäten nicht mehr durch die technisch-physikalischen Bedingungen des Gastransports beschränkt. Jedoch stellt die Validierung einer Buchung eine große mathematische Herausforderung dar. Der Grund ist, dass nicht jede – der im Allgemeinen unendlich vielen – Kombinationen von bilanzierten Ein- und Ausspeisungen innerhalb der Buchung auf einen zulässigen Transport in endlicher Zeit einzeln überprüfen werden kann.

„Eine Charakterisierung von Buchungen aus der Literatur“

Für die Modellierung des physikalischen Gasflusses fokussieren wir uns auf stationäre, d.h. zeitunabhängige, und nichtlineare Modelle, die Gasdrücke berücksichtigen.

Für passive Gasnetze, d.h. Netze nur aus Rohren bestehend, kann die Zulässigkeit einer Buchung mit Hilfe von endlich vielen „worst-case“ Szenarien evaluiert werden; siehe [2]. Diese Szenarien repräsentieren die maximal möglichen Druckdifferenzen innerhalb der betrachteten Buchung. Falls für jedes dieser endlich vielen „worst-case“ Szenarien ein zulässiger Transport durch das Netz existiert, kann mathematisch garantiert werden, dass auch alle anderen bilanzierten Kombinationen an Ein- und Ausspeisungen innerhalb der Buchung transportierbar sind. Ist jedoch eines dieser „worst-case“ Szenarien nicht transportierbar, ist die zugehörige Buchung unzulässig.

Leider lässt sich diese Charakterisierung von Buchungen und weitere Resultate aus der Literatur nicht direkt auf Gasnetze mit sogenannten aktiven Elementen, wie zum Beispiel Kompressoren und Reglern, anwenden. Insbesondere Kompressoren sind wichtige Elemente von Gasnetzen, welche es erlauben, Gas über große Strecken zu transportieren. In dem prämierten Artikel [3] betrachten wir nun genau diese Gasnetze mit einer linearen Modellierung der aktiven Elemente. Einerseits erlauben diese aktiven Elemente dem Netzbetreiber, den Gasfluss innerhalb des Netzes zu steuern. Andererseits führt die Entscheidungen über das An- und Ausschalten der aktiven Elemente zu mathematisch anspruchsvollen binären Entscheidungen, die für jedes der möglichen Szenarien individuell getroffen werden müssen.

„Ein Bilevel-Ansatz für die Buchungsvalidierung“

Für die Buchungsvalidierung in aktiven Netzen haben wir ein zweistufiges Optimierungsproblem, auch Bilevelproblem genannt, entwickelt, welches die Idee des Berechnens von endlich vielen „worst-case“ Szenarien und die individuellen Steuerungsmöglichkeiten der aktiven Elemente durch den Netzbetreiber vereint. Das entwickelte Modell beinhaltet zwei Akteure und hat folgende Struktur. Die erste Spielerin (Leader) versucht ein „worst-case“ Szenario, d.h. eine bilanzierte Kombination von Ein- und Ausspeisungen, innerhalb der Buchung zu finden, welches möglichst schwer durch das Netz transportiert werden kann. Der Netzbetreiber agiert als zweiter Spieler (Follower) und versucht durch die Steuerung der aktiven Elemente das gegebene „worst-case“ Szenario des Leaders durch das Netz zu transportieren. Findet die erste Spielerin ein Szenario, dass vom Netzbetreiber nicht transportiert werden kann, ist die Buchung unzulässig. Andernfalls ist die Buchung zulässig.

Für das Lösen des entwickelten Bilevelproblems kann man nicht direkt auf klassische Lösungsansätze der Bileveloptimierung, wie zum Beispiel die Reformulierung mit Hilfe der Karush-Kuhn-Tucker Bedingungen, zurückgreifen, da das Follower-Problem nichtkonvex ist. Deswegen haben wir spezifische Lösungsansätze für das betrachtete Bilevelproblem entwickelt.  Hierfür treffen wir die Annahme, dass kein aktives Element Teil eines Kreises des Gasnetzes ist. Unter dieser Annahme besteht die Kernidee unseres Lösungsansatzes aus folgender Beobachtung. Nach der Wahl des „worst-case“ Szenarios durch den Leader sind einige nachfolgende Entscheidungen des Netzbetreibers durch technisch-physikalische Bedingungen des Gastransports fixiert. Wir konnten beweisen, dass diese fixierten Entscheidungen von der zweiten Stufe in die erste Stufe des Bilevelproblems überführt werden können. Dies führt zu einer äquivalenten Reformulierung des ursprünglichen Bilevelproblems, in dem das Follower-Problem nun ein lineares, anstatt eines nichtkonvexem, Optimierungsproblem ist. Für dieses reformulierte Bilevelproblem haben wir sowohl den klassischen Karush-Kuhn-Tucker Ansatz angewendet als auch weitere problemspezifische Lösungsmethoden erforscht. Insbesondere erhalten wir eine Charakterisierung von Buchungen mit Hilfe von endlich vielen „worst-case“ Szenarien, welches die bestehende Charakterisierung in passiven Netzen, siehe [2], auf die betrachteten Gasnetze mit aktiven Elementen verallgemeinert.

Die Anwendbarkeit der entwickelte Lösungsmethoden zur Buchungsvalidierung haben wir anhand von verschiedenen Gasnetztopologien basierend auf realen Netzen numerisch untersucht.

In der Praxis werden häufig Buchungen mit Hilfe von Simulationen geeigneter Expertenszenarien evaluiert. Somit können unsere Forschungsergebnisse, insbesondere die Charakterisierung von Buchungen mit Hilfe von endlich vielen „worst-case“ Szenarien, das Erstellen dieser Expertenszenarien für bestimmte Gasnetze unterstützen.

Für die zukünftige Forschung können die erzielten Ergebnisse zur Buchungsvalidierung verwendet werden, um die Analyse mathematischer und ökonomischer Modelle des Entry-Exit-Systems voranzutreiben, um Ineffizienzen innerhalb des Marktsystems zu identifizieren und eine mögliche Integration von Wasserstoff in diesem Marktsystem zu untersuchen.

Besonderer Dank gilt meinen Co-Autoren Fränk Plein, Martine Labbé und Martin Schmidt.

Der zugehörige Artikel inklusive aller mathematischen Details ist frei zugänglich unter https://link.springer.com/article/10.1007/s00186-021-00752-y.

Literatur:

  1. Grimm, V., L. Schewe, M. Schmidt und G. Zöttl (2019). „A multilevel model of the European entry-exit gas market“. In: Mathematical Methods of Operations Research 89.2, S. 223–255. doi: 10.1007/s00186-018-0647-z.
  2. Labbé, M., F. Plein und M. Schmidt (2020). „Bookings in the European gas market:     characterisation of feasibility and computational complexity results“. In: Optimization and Engineering 21.1, doi: 10.1007/s11081-019-09447-0.
  3. Plein, F., J. Thürauf, M. Labbé und M. Schmidt (2021). „A bilevel optimization approach to decide the feasibility of bookings in the European gas market“. In: Mathematical Methods of Operations Research. doi: 10.1007/s00186-021-00752-y.
  4. Schmidt, M und J. Thürauf (2022) „Quo vadis, Entry-Exit-System?“ In: gwf-Gas|Erdgas, 7-8/2022. ISSN 2366-9594.