Laudatio auf Prof. Dr. Thomas Liebling
von MICHAEL JÜNGER, KÖLN
Sehr geehrter Herr Staatssekretär,
sehr geehrter Herr Prorektor,
sehr geehrte Herren Vorsitzende,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
die Gesellschaft für Operations Research GOR verleiht alle zwei Jahre den GOR-Wissenschaftspreis für ein wissenschaftliches Gesamtwerk. Der Preis wird an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben, die in ihrem Werk durch herausragende Leistungen zur Weiterentwicklung der in der GOR vertretenen Gebiete beigetragen haben. Preisträger können deutsche oder ausländische Persönlichkeiten aus Hochschulen, Forschungsinstituten oder aus der Praxis sein.
Es ist eine große Ehre für mich, einige Worte über unseren heutigen Preisträger, Herrn Professor Thomas Liebling, an Sie richten zu dürfen.
Das Faszinierende an unserer wissenschaftlichen Disziplin Operations Research ist der zielgerichtete Einsatz von Methoden der Wirtschaftswissenschaften, der Mathematik und der Informatik. Die Anwendungen, für die unsere wissenschaftliche Gemeinschaft diese Kombination einsetzt, gehen längst weit über ihre klassischen Wurzeln hinaus – wir beobachten zunehmend, wie Operations Research Methoden in den Naturwissenschaften, etwa Physik, Chemie und Biologie, in der Medizin sowie in den Ingenieurwissenschaften erfolgreich eingesetzt werden. Ebenso beobachten wir, wie Optimierungsmethoden des Operations Research von Mathematikern und Theoretischen Informatikern mit zunehmendem Interesse studiert und weiterentwickelt werden.
Thomas Liebling ist international als treibende Kraft in allen klassischen und modernen Facetten des Operations Research bekannt und auch an zentraler Stelle in unseren zahlreichen Verbindungen zur Mathematik und Informatik engagiert. Vermutlich hilft es, wenn auch der persönliche Hintergrund kosmopolitisch ist:
Thomas Liebling wurde in La Paz, Bolivien, geboren, verbrachte dort seine Kindheit und genoss schul- und erste wissenschaftliche Ausbildung bis zum Bachiller en Humanidades, den er 1960 am Instituto Americano in La Paz erhielt. Seine weitere wissenschaftliche Ausbildung erfolgte vornehmlich in der Schweiz. Im Jahr 1965 wurde er an der ETH Zürich zum Diplomingenieur ernannt, dann kehrte er kurz als wissenschaftlicher Mitarbeiter nach La Paz zurück. Ein Jahr später wurde er Assistent am Institut für Operations Research an der ETH und wurde dort 1969 zum Doktor der Technischen Wissenschaften promoviert. Für seine Dissertation mit dem Titel »Anwendung der Graphentheorie auf Planungs- und Tourenprobleme des städtischen Straßendienstes« wurde er mit dem ETH-Preis und einer Silbermedaille ausgezeichnet. Nach einem Postdoc-Aufenthalt am Operations Research Department der Stanford University im Jahr 1970 kehrte er 1971 an die ETH Zürich zurück und habilitierte sich dort im Jahr 1972 in Mathematik. Bis 1979 arbeitete er an der ETH am Institut für Operations Research, zuletzt als geschäftsführender Direktor, unterbrochen durch seine erste Gastprofessur, die er 1974 in Rio de Janeiro inne hatte. Im Jahr 1979 übernahm er dann seine erste reguläre Professur am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, New York. Im Jahr 1980 wurde er zum Professor an der EPFL Lausanne ernannt, und er blieb der EPFL, unterbrochen von Gastaufenthalten an verschiedenen renommierten Forschungsstätten wie Cornell und MIT, bis heute treu. Viele von uns, die 1997 auf dem International Symposium on Mathematical Programming in Lausanne zu Gast waren, können das sicherlich gut verstehen. Damals war Thomas Liebling unser Gastgeber, und mit »wir« sind circa 1400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 65 Ländern gemeint, für die diese Tagung ein Meilenstein in unserer Disziplin war.
Die Organisation der Tagung war sicherlich eine überragende Leistung. Thomas Liebling diente und dient dem Operations Research in mannigfacher Weise. Seine zahlreichen Aktivitäten an der EPFL Lausanne umfassen die 1980 erfolgte Gründung und Leitung der aus 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestehenden ROSO Operations Research Gruppe am Mathematik Department, den Vorsitz des Informatikrats, der den ersten schweizer Supercomputer installierte, die Präsidentschaft in der Konferenz der Departmentleiter, die Präsidentschaft im Forschungsrat sowie die Gründungsmitgliedschaft im 1992 gegründeten IML, dem International Institute for the Management of Logistics. International ist Thomas Liebling bekannt als aktives Mitglied in mehreren Operations Research Fachgesellschaften, insbesondere in der GOR. Er ist der Schweizer Koordinator des elektronischen Netzwerk DMA-NET und der Anwendungskoordinator im von der EU geförderten Europäischen Diskreten Optimierungsnetzwerk DONET. Thomas Liebling war und ist Koorganisator mehrerer Oberwolfach-Tagungen und der beliebten Aussois-Workshops in Südfrankreich. Seit 1994 ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Konrad-Zuse-Zentrums für Informationstechnik in Berlin, von 1996 bis 2000 als Vorsitzender. Weiterhin war bzw. ist Thomas Liebling Mitherausgeber von Operations Research, Operations Research Spektrum, European Journal of Operations Research, Management Science, Mathematical Programming, Operations Research Letters und Investigación Operativa.
Nun erlauben Sie mir bitte einige Worte zu Thomas Liebling als Wissenschaftler und akademischen Lehrer.
Zunächst ein wenig Statistik (übrigens auch eines der vielen Gebiete, mit denen sich Thomas Liebling wissenschaftlich beschäftigt): circa 120 wissenschaftliche Aufsätze und Skripten, 3 Bücher, Gutachter für über 70 Dissertationen und Habilitationsschriften, davon über 30 mal Betreuer und Erstgutachter von Doktorarbeiten, Betreuer von über 100 Diplomarbeiten.
Schauen wir uns zunächst Thomas Lieblings wissenschaftliche Veröffentlichungen an: Die erste erschien 1967 und hatte den Titel »Zeitoptimale Regelung der Bewegung einer hängenden Last zwischen zwei beliebigen Randpunkten«. Man mag sich darüber streiten, ob man dieses Thema dem Operations Research oder doch eher dem Ingenieurbereich bzw. der mathematischen Kontrolltheorie zuordnen möchte, aber bei allen folgenden Arbeiten gibt es keine Zweifel. Hier finden wir alle Facetten des Operations Research wie vorhin angekündigt: Klassische OR-Themen wie Lagerhaltung, Produktions- und Tourenplanung durchziehen sein wissenschaftliches Werk. Auf deutsch, englisch, französisch und spanisch (in alphabetischer Reihenfolge) leistet Thomas Liebling theoretische und algorithmische Beiträge zu zahlreichen kombinatorischen und stochastischen Optimierungsproblemen sowie allgemein zur Linearen Optimierung, zur Konvexen Optimierung, zur Polyedertheorie und zur Algorithmischen Geometrie.
In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit kann ich leider nicht detailliert auf seine Beiträge eingehen. Eine Auswahl der Anwendungen möchte ich aber auflisten, nicht zuletzt als Untermauerung meiner anfänglichen These vom erweiterten Aktivitätsgebiet des Operations Research, das sich in Thomas Lieblings Arbeit wie in kaum einem anderen Gesamtwerk in so zahlreichen Ausprägungen widerspiegelt. Mir fehlt auch die Zeit, diese Anwendungen zu strukturieren, also nenne ich nur einige »Highlights« in historischer Reihenfolge in bezug auf die jeweils erste Liebling-Veröffentlichung: Modeindustrie, Straßenreinigung, Schneeräumung, Sanitätsdienst, Forstwirtschaft, Bauwesen, Getreidewirtschaft, Solarenergie, Kristalline Strukturen, Telekommunikation, Aluminiumproduktion und Recycling, Bildverarbeitung, Börse, Volleyball, Materialwissenschaften, Pilzwachstum.
Zur Zeit beschäftigen sich Thomas Liebling und seine Mitarbeiter/innen intensiv mit der Simulation von Granulaten nach der Methode der distinkten Elemente. Es ist bereits gelungen, 3D Granulate mit mehr als 100.000 Körnern effizient und realistisch nachzubilden, ein neuer Rekord.
Thomas Liebling hat sich mehrfach in seiner Karriere mit Themen beschäftigt, die erst Jahre später in das Zentrum des allgemeinen Interesses gerückt sind. Zum Beispiel lautet das Thema seiner Habilitationsschrift von 1970: »On the number of iterations of the Simplex method«. Er hat sich zum Beispiel auch sehr frühzeitig mit dem Potential des parallelen Rechnens beschäftigt, von theoretischen Überlegungen bis zur praktischen Softwareerstellung.
So vielseitig und kreativ Thomas Liebling als Forscher ist, so anregend ist er auch als akademischer Lehrer. Ich habe bereits vorhin die beeindruckende Anzahl seiner Schülerinnen und Schüler genannt. Neben seinen vielseitigen Lehraktivitäten an der EPFL Lausanne, die alle theoretischen und praktischen Aspekte des Operations Research umfassen, koordiniert Thomas Liebling auch überegionale Lehraktivitäten im gemeinsam mit der Universität von Grenoble veranstalteten Doktorandencurriculum in Diskreter Mathematik und Optimierung.
Nach all diesem Lob (schließlich ist mein Thema eine »Laudatio«) könnte man meinen, Thomas Liebling sei eine Respektsperson, der man sich nur mit einer gewissen Beklommenheit nähern kann. Ersteres ist zweifellos richtig, er ist sicherlich eine Respektsperson und ein Vorbild, »Beklommenheit« ist aber ebenso sicher nicht angebracht: Wir Jüngeren erleben ihn als interessierten und geduldigen Zuhörer sowie als akademischen Betreuer, der junge Leute für das Operations Research zu begeistern vermag. Ich selbst bin ihm Mitte der achtziger Jahre in Oberwolfach erstmals persönlich begegnet und habe ihn über die Jahre als einen liebenswerten Menschen kennengelernt. Ich weiß, dass viele von Ihnen, die ihn näher kennen, ähnlich empfinden. Deshalb, lieber Tom, freuen sich heute viele deiner Kolleginnen und Kollegen und Schülerinnen und Schüler mit dir über die wohlverdiente Auszeichnung durch die GOR, die dir heute zuteil wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.